Rotkäppchen & der Verrat an der eigenen Sippe

 

„Warum kommt sie denn nicht rein?", fragte Großmutter genervt.
„Nun, weil sie schon da ist“. Ich blies sachte in das Jagdhorn und wiederholte: „Bin von der Reise durch den Wald und die Weite zurück... Die Blumen an Dich sandte ich voraus.“

Ich kniete vor dem Bett auf der Matte, wo es wohl sonst so oft der Wolf tat. Er war gerade nicht da. Hatte sie ihn schon gefressen?

„Warum hast Du denn eigentlich so große Füße?", fragte ich den Wolf innerlich, der mich zum Fressen gern hatte, noch bevor ich auf die Welt kam, wie er immer sagte.

Ich legte meine große Hand auf den Bauch meiner Großmutter. Alsbald konnte ich fühlen, wie ein Rumoren begann. Es war als wäre da ein verschluckter Hunger, verborgen in seinem Harm und seinem Stolz.


Ich blieb eine Zeit mit meiner warmen Hand dort, ruhend ohne Druck, bedankte mich.

Bevor ich mich dann abwandte und meinen Weg weiterführen wollte in meine Heimatgefilde, fragte ich sie still in meinen Gedanken, ob mein Weg denn heute auch noch bei dem Wolf vorbeiführe.

Sodenn lächelte sie genüsslich, machte schnalzende und schmatzende Mundbewegungen, ihre Augen dehnten sich bis aufs Weiteste und sagten, ja, geh nur mein Kind.

Sie strahlte erfüllt. Sie sah so fein und verklärt aus.

Ich ließ sie zurück und merkte nicht wie ich vom Weg abkam.


Rotkäppchen ging gerade mit ihrem Körbchen einkaufen, als unsere Wege sich kreuzten. Auch sie schien erfreut über meine Heimkehr in das neue Haus des Wolfes, als wäre es meins. 

Sie schaute genau zu, wie er mich mit seinen Zweifeln zerfleischte. Warum sollte es mir anders ergehen. 

So deutlich wie nie zuvor fühlte ich die tiefen Schnitte im Fleisch und doch blieben die Tränen mir im Hals stecken.

Mein Vater verabschiedete mich mit einem siegreichen Lächeln. Ja, ich habe sie wieder... wunderbar eingelegt in der Salzlaake ihrer Tränen. So bleibt sie mir noch lange erhalten.



Was bleibt, ist der Verrat.
Die Frage ist nur an wem - und auf welche Art.


N.B. Geschichten, meine Medizin für Cyclebreaker, die ihre innere Familie heilen wollen.